Radieschen im Rathaus

Radieschen im Rathaus - Kurzgeschichte

Montagmorgen.
8:55 Uhr.

Die Tür vom kleinen Rathaus war noch verschlossen. Laut Internet hätte das Einwohnermeldeamt von 9 bis 10 Uhr geöffnet.

Ich klingelte.

Die letzte Tür am Ende des Flurs war angelehnt, das konnte ich sehen. Etwas Licht schien heraus.
09:00 Uhr.
Ich klingelte erneut.
09:02 Uhr.
Noch einmal.

Dann endlich.
Eine Frau mit dunkelroten Locken, Brillen und lila-flieder Schal drehte den Schlüssel im Schloss, ohne mich dabei anzuschauen. Dann ging sie wieder weg.

Ich wollte gerade »Guten Morgen« und »mein Ausweis ist abgelaufen« sagen, da flog mir schon ein »Wir öffnen immer erst ab 9« entgegen.

»Ja«, sagte ich.
»Sie haben vorher geklingelt«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich, »Ich klingle so gerne.«

Sie verschwand in ihrem Zimmer. Auf dem Schild neben der Tür stand „Einwohnermeldeamt“. Mit einem Klopfen schob ich die Tür wieder auf, wartete auf ihre Antwort. Sie schaute wortlos hoch.

»Ich brauche einen neuen Ausweis. Meiner ist abgelaufen«, sagte ich noch einmal.

Sie nickte nur.

Ohne Aufforderung setzte ich mich auf einen der zwei Stühle vor ihrem Pult, das als Abstandhalter zu ihrem eigentlichen Schreibtisch diente.

»Passbild und Alten. Dauert dann drei Wochen«, sagte sie.
»Drei Wochen? Ich fliege aber schon in zwei. Und Ihre Kollegin sagte mir am Telefon, ich bräuchte kein neues Bild.«
»Haben Sie mit Frau Seidel gesprochen?«, wollte sie wissen.
»Glaube schon«, sagte ich.
»Kein Wunder«, sagte sie und zog ihre Augenbrauen hoch, während sich die Geschwindigkeit auf der Tastatur zu verdoppeln schien.

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
Auf der Fensterbank entdeckte ich einen kleinen Blumentopf. Ein paar grüne Blätter schauten raus.

»Ist das Glücksklee? Der mit vier Blättern?«, fragte ich.
Nach einer langen Pause, ohne ihren Blick vom Bildschirm zu lösen, sagte sie monoton: »Radieschen«.
»Ah, Radieschen«, sagte ich, »sehr gesund!«
»Hat mir mein Mann geschenkt.«
»Mhm«, machte ich.
»Ich hasse Radieschen«, sagte sie.
»Hui«, dachte ich.

Ihr Zeigefinger schlug zweimal auf Enter, der Drucker zog Papier.
Stempel, Stempel, Unterschrift und schon schob sie mir ein DIN-A4-Blatt rüber.

»Kommen Sie in einer Woche wieder. Mit neuem Bild. Dann mach’ ich ihnen etwas fertig.«
»Also kann ich doch fliegen? Toll!«, bedankte ich mich beim Aufstehen mit einer Verbeugung.
»Lassen Sie sich von der Seidel nicht den Tag vermiesen«, sagte sie und lächelte plötzlich.
»Aber nur, wenn Sie sich nicht wegen meines Klingelns ärgern lassen«, sagte ich.
Wir lachten wie alte Freunde.

Plötzlich klingelte es wieder.
Das Lächeln sprang aus ihrem Gesicht.

An der Tür traf ich den Hausmeister.
Er hatte neben der Tür ein Loch gebohrt und klingelte immer und immer wieder.

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