Die Stadt Takumo, die auf einem Plateau des Korena-Berges lag, wurde seit Jahren von einer unaufhaltsamen Dürre heimgesucht. Der See, der das Volk, das Vieh und die Felder seit jeher mit Wasser versorgte, war verschwunden. Im Namen der Götter versprach der Kaiser seinen Untertanen, sie zu retten und etwas zu erschaffen, das sich noch kein Mensch zuvor getraut hatte. Einen Wasserweg, vom Meer bis hoch zur Stadt. »Denn das Meer würde nie versiegen«, zitierten die Minister.
Rino hatte den starken Männern schon als Kind gerne zugeschaut. Wie sie Stein auf Stein stapelten. Sein Vater war selbst mal einer von ihnen gewesen, bis ihm ein Stein auf den Fuß gefallen war und er weder gehen noch stehen konnte. Der Kaiser, für seine Großzügigkeit bekannt, erfüllte jedem Verwundeten einen freien Wunsch. »Lass’ meinen Sohn dieses Bauwerk eines Tages zu Ende bringen, euer Majestät«, wünschte sich der Vater. Sofort wurde Rino dem Bauminister unterstellt.
»Eines Tages wird hier Wasser durchfließen«, hatte Rinos Herr im Dienste des Kaisers gesagt. Der Bauherr, morgens als erster und abends als letzter auf der Baustelle, nahm täglich Maß, streichelte die Steinkanten, kontrollierte den Fleiß der Männer. Eine lange Reihe großer Steine. Von dem einem Ende aus konnte man das andere nicht sehen. Die obersten Steine waren hohl.
Rinos Vater starb. Der Minister starb. So kam der Tag, an dem Rino alleine in der Sonne stand, kein Schatten mehr über ihm. Der Junge nahm Maß, streichelte die Steine und beobachtete den Regen, der vom Wind in die hohlen Steine gedrückt wurde. Doch das Wasser floss zum Meer. Er fragte jeden starken Mann, warum. »Es läuft in die falsche Richtung!«, rief er ihnen zu, »es muss doch hoch zur Stadt.« Nur einer traute sich zu antworten. Der Stein auf seinem Rücken war kleiner als von den anderen. »Wir haben die Steine gestapelt, genau wie der Minister es wollte, versprochen.«
Rino, mit der Befugnis zur direkten Audience beim Kaiser, machte sich sofort auf den Weg. Voller Freude empfing ihn der Herrscher, zeigte ihm seinen neuen Thron, ließ Rino von Früchten kosten, für deren Farben ihm die Worte fehlten.
»Was führt dich zu mir, jüngster Minister in meiner Geschichte?« Der Kaiser setzte sich, er war schon alt, sein Haar weiß.
»Euer Bauwerk, Majestät.«
»Fahre fort. Fließt etwa schon Wasser hindurch?«
»Ja«, sagte Rino.
»Großartig!«, rief der Kaiser, seine Hände in die Höhe streckend.
»Aber das Wasser fließt in die falsche Richtung.«
»Das kann nicht sein«, sagte der Kaiser.
Der Junge nahm einen Trog und kippte den Inhalt vor seine eigenen Füße. »Wasser fließt von oben nach unten, mein Kaiser. Unsere Stadt liegt auf dem Berg und das Meer im Tale. Wir müssen den Bau stoppen. Wir müssen jeden Tag und jeden Stein, der uns noch verbleibt, dafür einsetzen, eine neue Stadt am Meer zu errichten. Nur so können wir unser Volk noch retten.«
»Mein Wasserweg wird weiter gebaut!«, befahl der Kaiser.
»Aber Herr, wenn …«
»Schweig! Meereswasser kann man eh nicht trinken.«
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Lieber Jan,
wieder einmal eine schöne interessante Story‼️👍🙋♀️
Geht sie irgendwann noch weiter ⁉️🙏
Ich würde gerne ein Happy End lesen 😂🤦♀️⁉️⁉️🙏♥️
Aber von den Sturköpfen gibt es ja heute überall auf der Welt reichlich genug ‼️‼️‼️
Lieber Jan, ich drücke dir weiterhin ganz fest die Daumen für all deine weiteren Ideen, Projekte etc.✊✊🙋♀️
Alles Liebe für dich 📚📖
Gila
Danke, liebe Gila :-)! Von dieser kleinen Geschichte habe ich keine Fortsetzung geplant. Und auch wenn ich selbst ein großer Fan von Happy Ends bin und sie meistens brauche: für mich ist bei dieser Story das größtmögliche glückliche Ende einfach die Erkenntnis, dass es ’ne reine Egonummer war :-).
Klasse, Jan Borkenstein.
Vielen Dank, lieber Kurt :-)!