Das letzte Fragezeichen: Wenn Freundschaften in der Stille zerbrechen

Foto von Aaron Burden auf Unsplash
Foto von Aaron Burden auf Unsplash

Intro

Es ist die dritte Sitzung. Der Therapeut macht ein paar Notizen, überschlägt seine Knie.
»Haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht?«
»Ja«, sage ich, »Hab’s versucht.«
Ich nehme das Blatt in die Hand und fange an zu lesen.

Der Brief

Unsere Köpfe waren nach vorn gerichtet. Der Pastor stand neben Bennos Urne. Wir alle wussten, dass seine Rede eine Geschichte eine Erzählung war. Für Tanten, Onkel und Cousinen. Jedenfalls nicht die Wahrheit. Wobei ich mir auch schon lange nicht mehr sicher war, ob ich die Wahrheit je kennengelernt hatte.

Die Mutter saß in der ersten Reihe und weinte. Wir sangen ein Lied, danach ein Gebet. Trotz der hallenden Stille spürte ich Fragen, wie Windspiele von der Decke hängen, nach denen wir vielleicht früher unsere Hände hätten ausstrecken sollen. »Suchen Sie nicht nach Antworten«, beendete der Pastor seine Rede, »hören Sie auf zu fragen. Nehmen Sie Anteil. Das ist alles, was Sie jetzt tun können.«

Wir erhoben uns, einer nach dem anderen. Der Pastor trug die Urne vor seinem Bauch. Bennos Mutter folgte ihm. Ihr Kopf war gesenkt. Mein Beileid, mein Beileid, flüsterten die Stimmen gewaltig leise am Ausgang. Nicken und Schweigen wechselten sich ab.

»Mein Beileid«, sagte dann auch ich.
Sie schaute hoch, ihre Augenlider zitterten.
»Wie kannst du es wagen?«, flüsterte sie.
Ich antwortete nicht.
»Wie könnt Ihr alles es wagen?«, fing sie an zu schreien. »Ihr habt meinen Jungen im Stich gelassen! Ihr alle! Benno war euer Freund!«
Während sie »Verschwindet!« und »Fahrt zur Hölle!« brüllte und Blumensträuße an unseren Schultern zerschellten, gingen wir im Gleichschritt weiter, als würden wir gemeinsam in den Krieg ziehen.

Benno und ich waren beide im gleichen Dorf aufgewachsen. Obwohl sich unsere Wege schon viel früher hätten kreuzen können, wurden wir erst richtige Kumpel, als wir in die Pubertät kamen. Am Dorfteich teilten wir uns die ersten Kippen. Aus Deospray bauten wir zum Leid der Ameisen kleine Flammenwerfer. Gelegentlich zockten wir etwas auf der Playstation. So was halt. Bennos Eltern hatten sich getrennt, als er noch klein war. Aber ohne Streit. »Kein Drama und doppelt so viele Geschenke«, sagte er immer. Nach der Schulzeit machte er eine Ausbildung zum Elektriker. Erzählte er zumindest. Er arbeitete immer viel und hatte immer genug Geld. Ich musste erst dreimal das Fach an der Uni wechseln, um zu merken, dass ich vielleicht doch mal lieber hätte eine Ausbildung machen sollen. Wir trafen uns immer noch fast jeden zweiten Tag. Hingen herum, lachten, flirteten an den Wochenenden mit denselben Frauen. Ja, wir hatten eine gute Zeit.

Als ich dann meine Freundin kennenlernte, wurde es weniger. Benno nahm es mir, im Gegensatz zu allen anderen, nicht übel. »Ist doch ganz normal, wenn man sich verliebt«, sagte er. Die Zeit rannte plötzlich doppelt so schnell. Eines Tages fragte mich ein anderer Freund, ob ich wüsste, was mit Benno wäre. »Nichts«, sagte ich. Was sollte schon sein? Am selben Tag schrieb ich Benno eine SMS. Wie es ihm ginge, ob wir bald mal wieder einen Kaffee trinken wollen. »Alles Paletti! Unbedingt, mein Bester. Wann?«, antwortete er sofort. Ich schickte ihm ein paar Termine. Als er nach einer Woche immer noch nicht geantwortet hatte, sendete ich ein Fragezeichen hinterher. Die Häkchen waren blau. Zuletzt online heute um 5:19 Uhr stand da nur.

Immer seltener schaute ich in den Nachrichtenverlauf. Manchmal vergingen Monate, bis ich wieder auf das kleine, letzte Fragezeichen starrte, das ich ihm geschickt hatte, um zu sehen, ob er noch lebte. Zu dieser Zeit lief ich Bennos Mutter beim Einkaufen über den Weg. Ihr Benno mache ja richtig Karriere, sagte sie euphorisch. Das hätte sie nie gedacht. Wie man als Maurergeselle einen solchen Erfolg haben könne. »Elektriker«, hätte ich sagen müssen und wollen oder auch »Was für eine Karriere?« Doch anstatt das Fass zu öffnen, in dem Benno zu sitzen schien, nickte ich nur sprachlos. Sie erzählte mir, wie viel Benno von mir erzählte und wie gerne er noch mehr Zeit mit mir verbringen würde. Es wäre ja etwas weniger geworden, seitdem ich eine Freundin hätte, die ich schon lange nicht mehr hatte.
»Ben … brauchst du Hilfe? Du kannst mir alles erzählen, mein Bester«, schrieb ich dann. Zuletzt online heute um 3:39 Uhr. An einem Dienstag.

Später über Pfingsten dann fuhren ein paar alte Kumpel und ich nach Berlin. Die meisten kannten Benno auch und alle hatten schon lange nichts mehr von ihm gehört. Einer hatte seiner Freundin schon einen Antrag gemacht. Der Jüngste aus unserer Truppe würde bald Vater werden. Das Schöne an dem Wochenende war, es war wie früher. Wir tranken viel zu viel, redeten Unsinn und lachten über flache Witze. Wir bügelten unsere Hemden und bezahlten ein halbes Vermögen für einen eigenen Tisch im Avenue. Wir benahmen uns fast so schlimm wie diejenigen, über die wir uns immer lustig machten. Und plötzlich stand er da: Benno.

Größer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Nach hinten gelegte Haare, breite Schultern und ein hellblaues, aufgeknöpftes Hemd. Er sah gut aus. Richtig gut! Es fühlte sich so an, als würde ich meinen Vater nach einer Weltreise wieder in den Arm nehmen. Ich sagte ihm, er müsse unbedingt mit zu unserem Tisch kommen. Weder wollte ich mit ihm etwas klären, noch fragen, warum er sich die letzten Jahre nicht gemeldet hatte. Aber diesen Moment wollte ich festhalten.

Die Musik dröhnte. Benno strahlte mich an, er muss sich gefreut haben. Dann rief er mir ins Ohr, dass er gleich herüberkäme, er müsse nur »Ultra dringend pinkeln.« Wir schlugen ein. Die anderen am Tisch glaubten mir nicht, dass ich ihn getroffen hatte. Die Minuten dehnten sich. Unruhig hielt ich Ausschau. »War wohl doch nicht dein Benno«, machten sich die anderen lustig. Bis einer »Da!« rief und zum Fahrstuhl zeigte. Ich drängelte mich über die Tanzfläche, brüllte seinen Namen, die Tür fing an, zuzugehen. In diesem Moment drehte sich Benno zu mir um. Seine Augen bestanden nur noch aus Pupillen. Sein Blick ging durch mich durch. Sein Kiefer zuckte. Der Vorhang fiel. Ende.

Outro

Ich löse meinen Blick vom Papier, lege es beiseite und trinke einen Schluck Wasser.
»Warum haben Sie aus der Perspektive ihres Freundes geschrieben?«, fragt mich der Therapeut.
Ich zucke mit den Schultern.
»Glauben Sie, er ist schuld?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie schreiben von ihrem eigenen Tod. Wie fühlt sich das für sie an, Benno?«
»Irgendwie vertraut.«

Newsletter über
Zweifel, Mut und Ehrlichkeit.

Melde dich jetzt an und verpasse keine Story mehr. Bereits 58 Abonnenten.

Deine Anmeldung konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuche es erneut.
Bitte bestätige die Anmeldung über den Link in der E-Mail. Schau auch im Spam-Ordner nach.

Schreibe einen Kommentar

* Hiermit akzeptiere ich die Datenschutzbestimmungen